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Unsere Berge sind nicht sehr hoch, die euren sind viel höher – Deutsche Dialekte untersuchen mit den Wenkersätzen

Wer hat meinen Korb mit Fleisch gestohlen? Mein liebes Kind, bleib hier unten stehn, die bösen Gänse beißen Dich tot. Ich schlage Dich gleich mit dem Kochlöffel um die Ohren, Du Affe! Was auf den ersten Blick aussieht wie eine Reihe von Geheimphrasen aus einem Spionagefilm, sind in Wahrheit nur 3 von 40 Sätzen, die bei der Erforschung der deutschen Dialekte eine extrem wichtige Rolle spielen. Um diese sogenannten Wenkersätze und die Untersuchung, für die sie ursprünglich einmal von Georg Wenker ausgedacht wurden, soll es heute gehen.

Untersuchung von Dialekten

Diese schönen Sätze enthalten nämlich eine Reihe von Wörtern, an denen man bestimmte Unterschiede in der Aussprache zwischen Dialekten und Sprachwandelphänomene besonders zu erkennen kann. Insbesondere kann man an ihnen gut sehen, wie sehr sich die 2. Lautverschiebung durchgesetzt hat – oder auch eben nicht. Über die 2. Lautverschiebung haben wir schon einmal hier in einem eigenen Beitrag geschrieben, aber ganz knapp zusammengefasst geht es dabei um Folgendes: Ungefähr im Laufe des 6. und 7. Jahrhunderts hat sich die Art und Weise, wie p, t und k ausgesprochen werden, verändert. Am Wortanfang wurden sie zu pf, ts und kch (wie bei Pferd, ziehen und alemannisch Kchind) und wenn sie im Wort nach einem Vokal standen, dann wurden sie zu ff, ss und ch (wie bei Pfeife, essen und machen).

Wie ihr schon an dem Beispiel Kchind sehen könnt, hat sich dieser Wandelprozess aber nicht in allen deutschsprachigen Gebieten durchgesetzt. Der alemannische Sprachraum hat die 2. Lautverschiebung vollständig durchgemacht, aber je weiter man nach Norden geht, umso weniger verschobene Laute findet man. Im Niederdeutschen heißt es zum Beispiel auch heute noch Perd für Pferd, eten für essen und maken für machen.

Wie genau sich die deutschen Dialekte in Bezug auf die 2. Lautverschiebung (und ein paar andere Phänomene) unterscheiden, wollte Georg Wenker mit einer groß angelegten Untersuchung herausfinden, für die er sich die schönen Sätze vom Anfang des Textes ausgedacht hat. Und so machte er sich daran, einen Fragebogen zu erstellen, mit dem er herausfinden konnte, wie bestimmte Wörter ausgesprochen werden. Er entschied sich dafür, dass er mit der Post eine Reihe von hochdeutschen Sätzen mit den passenden Wörtern, in den die Laute pf, ff, ss und so weiter vorkommen, verschickte. Diese Sätze sollten dann von den angeschriebenen Personen in den Ortsdialekt übersetzt werden. So wurde der Satz Es hört gleich auf zu schneien, dann wird das Wetter wieder besser in Hannover zum Beispiel zu Et hört gliek up tau snien, dann werddat Wedder wedder bäter übersetzt.

Mit Unterstützung der Schulbehörde schrieb Georg Wenker zunächst für eine erste Untersuchung an jede einzelne Dorfschule im ganzen Rheinland. Dort sollten die Lehrkräfte mit der Hilfe ihrer Schüler_innen die Sätze übersetzen und wieder zurück an Wenker schicken.

Die 40 Wenkersätze

Nachdem Wenker eine Erhebung in seiner rheinischen Heimat durchführt hatte, erstellte er auf der Grundlage seiner Ergebnisse einen Sprachatlas. Das ist ein Atlas mit Karten, auf denen man die regionale Variation von Wörtern oder Lauten sehen kann. Hier könnt ihr die Karte aus diesem ersten Sprachatlas sehen, auf der die Varianten von Seife im Rheinland eingezeichnet sind. 1879 wurde die Erhebung auf ganz Preußen ausgedehnt und schließlich sollte Georg Wenker 1887 die Dialekte im gesamten Deutschen Reich mit seinen Fragebögen erheben. Für diese späteren Untersuchungen wurden die Sätze noch einmal verändert. Man musste schließlich sicherstellen, dass die Sätze für alle Leute gut verständlich waren, ganz egal, in welchem Teil des Reichs sie wohnten. Zum Beispiel war es nicht gut wenn ein Wort wie Kartoffel vorkommt, weil es dafür zu viele Varianten wie Erdapfel, Patat, Pipper und so weiter gibt. Diese Variation ist zwar auch sehr interessant, aber leider hinderlich, wenn man das Vorkommen von ff untersuchen möchte…

So entstanden die heute (zumindest unter Linguist_innen) berühmten 40 Wenkersätze. Die meisten haben einfach Szenen des Alltags zum Inhalt: Im Winter fliegen die trocknen Blätter durch die Luft herum. Er ißt die Eier immer ohne Salz und Pfeffer. Wem hat er die neue Geschichte erzählt? Eine Liste mit allen Wenkersätzen könnt ihr hier in der Wenkerbogen-App finden. Manche der Sätze sind aber, weil sie eben aus dem 19. Jahrhundert stammen, aus heutiger Sicht merkwürdig oder auch unfreiwillig komisch, wie der Satz mit dem Kochlöffel vom Anfang des Textes. Einen Satz wie Thu Kohlen in den Ofen, daß die Milch bald an zu kochen fängt würde man heute in so einer Umfrage wahrscheinlich nicht mehr benutzen. Sie wurden ja ursprünglich extra so designt, dass sie möglichst unauffällig und alltäglich wirkten. Und tatsächlich werden die Wenkersätze (teils in Abwandlung) auch heute immer noch für die Untersuchung von Dialekten verwendet. Das macht man vor allem so, damit man die neuen Ergebnisse mit den Ergebnisse von Georg Wenker vergleichen kann.

Nun aber zurück zur Datenerhebung: Die Wenkerbögen wurden dann also an alle Schulorte des deutschen Reichs verschickt und tatsächlich – Georg Wenker bekam bis zum Ende seiner Erhebungen über 44.000 ausgefüllte Fragebögen zurück. Ein unglaublicher Erfolg! Aber das war ja eigentlich erst der erste Schritt für die Erforschung der Dialekte: Diese ganzen Daten mussten jetzt ja auch noch ausgewertet werden. Das geschah an der Universität Marburg am Vorläufer des Forschungszentrums Deutscher Sprachatlas, das auch heute noch regionale Unterschiede in der deutschen Sprache untersucht – und das Forschungserbe Georg Wenkers hütet. In Marburg wurden dann in den nächsten Jahrzehnten die Sätze systematisch untersucht und auf der Grundlage der Daten Sprachkarten für den ab 1927 erscheinenden Sprachatlas des Deutschen Reichs gezeichnet. Der letzte Band wurde 1956 veröffentlicht. Dieser Sprachatlas war der erste Atlas seiner Art und er ist bis heute der umfangreichste. Niemand hat bisher ein größeres und engmaschigeres Ortsnetz für die Analyse von regionalen Variationen untersucht. Die Veröffentlichung der Arbeit, der Georg Wenker sein Leben gewidmet hatte, konnte er nicht mehr miterleben – er ist 1911 gestorben.

Und wie sieht es heute mit den Ergebnissen dieser mühsamen Forschung aus? Man kann natürlich in der Bibliothek im Sprachatlas aus Papier blättern. Aber das geht auch online bei regionalsprache.de. Dort könnt ihr euch alle Karten aus dem Sprachatlas von Georg Wenker anzeigen lassen. Hier ist zum Beispiel die Karte für die regionalen Unterschied bei Affe zu sehen. Doch auch die ausgefüllten Fragebögen aus der Erhebung sind heute noch erhalten und können im Wenkerbogen-Katalog gelesen werden.

Die Wenkerbogen-App

Mit ein paar Nacherhebungen, die später noch in anderen deutschsprachigen Gebieten wie Luxemburg und Südtirol durchgeführt werden, sind im Laufe der Zeit insgesamt über 54.000 Wenkerbögen zusammengekommen. Sehr viele davon wurden in den letzten Jahren am Deutschen Sprachatlas in Marburg digitalisiert, damit man auch in Zukunft noch darauf zugreifen kann. Teilweise sind die Papierbögen ja knapp 150 Jahre alt. Wenn ihr also wissen wollt, wie man um das Jahr 1900 herum in eurem Heimatort gesprochen hat, dann könnt ihr im Katalog der Wenkerbögen den Ortsnamen eingeben und loslegen.

Einen Haken hat die Sache allerdings: Die Fragebögen wurden größtenteils in deutscher Kurrentschrift ausgefüllt. Das war halt die damals übliche Schreibschrift. Das macht das Lesen heute allerdings etwas kompliziert, weil kaum jemand diese Schrift noch gut lesen kann. Deshalb ist man am Deutschen Sprachatlas darauf angewiesen, dass Freiwillige, die sich mit Kurrentschrift auskennen, als sog. Citizen Scientists oder Bürgerforscher_innen dabei mithelfen, die ausgefüllten Fragebögen abzutippen. Das kann man direkt auf der Homepage machen und dort gibt es auch ein paar Hilfestellungen dazu. Die Kurrentschrift ist aber nicht die einzige Hürde beim Lesen der Wenkerbögen.

Es ist ja grundsätzlich eher ungewöhnlich, überhaupt Dialekt in geschriebener Form zu sehen. So geht es mir zumindest. Für mich ist Dialekt vor allem etwas, was ich mit gesprochener Sprache verbinde. Und so haben sich auch die Lehrkräfte, die die Wenkerbögen ausgefüllt haben, teils merklich schwer damit getan, ihre Dialekt zu verschriften, für die es ja auch keine Rechtschreibung gab. Und manche hatten das Gefühl, dass die Buchstaben des deutschen Alphabets den Lauten des Dialekts nicht wirklich gerecht werden. In vielen niederdeutschen Regionen gibt es zum Beispiel ein ganz tiefes a, das schon fast ein o ist. Aber eben auch nur fast. Und das lässt sich dann nur schwer mit den paar Vokalen erfassen, die zur Verfügung stehen. Aber die Leute waren clever und haben sich manchmal besondere Zeichen für so komplizierte Laute ausgedacht und Erklärungen dazugeschrieben, wie diese zu interpretieren sind.

Auch diese Extrazeichen machen das Lesen der Wenkerbögen nicht gerade leichter – aber sie machen die Sache gleichzeitig auch interessanter! Die Wörter zu entziffern fühlt sich so manchmal wie das Lösen eines Rätsels an. Und zum Glück sind ja die Sätze theoretisch immer die gleichen. In der Wenkerbogen-App stehen die hochdeutschen Versionen auch immer nochmal neben den im Dialekt ausgefüllten Fragebögen, sodass man zum Glück immer mal spicken kann, wenn man mit dem Entziffern alleine nicht mehr weiterkommt.

Falls ihr jetzt auch Lust bekommen habt, Dialektdetektiv_in zu spielen, dann schaut doch einfach mal bei der Wenkerbogen-App vorbei! Und denkt dran, uns hier in den Kommentaren, bei Twitter oder Instagram zu schreiben, welcher euer Lieblingswenkersatz ist! Mein Favorit ist glaube ich der zeitlose Satz Nr. 8: Die Füße thun mir sehr weh, ich glaube, ich habe sie durchgelaufen.

Zum Weiterlesen

Wenkerbogen-App: https://apps.dsa.info/wenker

Robert Engsterhold & Elvira Glaser (2023): Ein Jahr Wenkerbögen-App. In: Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 3(5). https://www.sprachspuren.de/ein-jahr-wenkerboegen-app/

REDE – Regionalsprache.de: https://regionalsprache.de

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