Wörter machen Sachen · Wortgeschichte

Der Krake, der Kraken oder die Krake?

Erstaunlich, wie viele Formen so ein Oktopus annehmen kann! Aber nicht nur der/die Krake/n hat viele Formen zu bieten. Auch Glaube, Drache, Friede und Wille wissen manchmal nicht so genau, ob sie nicht doch eher Glauben, Drachen, Frieden und Willen sind. Was ist da los? Wir schauen uns das Ganze näher an.

Um der/dem Krake/n auf den Grund zu gehen, müssen wir uns erst einmal ansehen, worum es sich bei diesen Wörtern eigentlich handelt: Der Krake und der Kraken sind Maskulina, die Krake ist ein Femininum. Nun ist der Krake ein besonderes Maskulinum, denn der Krake ist ein so genanntes schwaches Maskulinum.

schwach                                      stark

der Krake                                    der Ball

des Krake-n                                des Ball-s

dem Krake-n                              dem Ball

den Krake-n                               den Ball

die Krake-n                                die Bäll-e

Schwache Maskulina markieren alle Kasus bis auf den Nominativ mit –n. Im Gegensatz dazu markieren starke Maskulina Kasus im Singular fast gar nicht. Nur der Genitiv ist eine Ausnahme, er wird mit –s markiert.

Auch im Plural unterscheiden sich die schwache und die starke Flexion: Bei den schwachen Maskulina finden wir mal wieder ein –n, sodass man Singular und Plural in den meisten Fällen nicht unterscheiden kann. Die starken Maskulina unterscheiden hingegen deutlich zwischen Singular und Plural, wie bspw. der Ball vs. die Bälle.

So weit, so gut. Nun muss man noch wissen, dass es viel weniger schwache Maskulina gibt als starke Maskulina. Schwache Maskulina stellen also eine besondere Gruppe innerhalb der Maskulina dar. Und die Mitglieder dieser Gruppe sind sich auch noch sehr ähnlich: Junge, Bote, Gehilfe, Wille, Friede – all diese Substantive haben mehrere Silben (im Gegensatz zu Ball) und enden auf Schwa (das ist der letzte Laut in Krake, der mit <e> verschriftet wird). Neben diesen formalen Merkmalen eint die schwachen Maskulina eine semantische Gemeinsamkeit: Sie beziehen sich gerne auf Menschen. Matrose, Junge, Bote sind deshalb typische schwache Maskulina.

Der Krake passt wunderbar zur Form der schwachen Maskulina, aber nicht so gut zur Bedeutung. Schwache Maskulina sind zwar nicht auf Menschen beschränkt, das sieht man bspw. am Schimpansen, der auch zu den schwachen Maskulina zählt. Der Krake ist aber ein Tier, das als Wasserbewohner mit acht Armen nicht besonders menschenähnlich ist. Er ist daher „weiter weg“ vom Menschen als beispielweise der Schimpanse.

An dieser Stelle wissen wir nun auch, warum der Krake sich nicht so richtig wie ein schwaches Maskulinum verhält: Er passt semantisch nicht gut zum Rest der Gruppe und muss sich daher umorientieren. Das ist übrigens bei den anderen Substantiven von oben genauso: Friede, Drache, Glaube und Wille passen zwar von der Form her super zu den schwachen Maskulina, aber nicht von der Bedeutung.

Was passiert also? Der Krake nimmt entweder ein –n an und wird zu einem Kraken oder er wechselt das Genus und wird zu einer Krake. Wir schauen uns beide Optionen mal näher an.

n-Annehmen

Wie kann es passieren, dass der Krake einfach der Kraken wird? Schauen wir uns das Paradigma von Krake nochmal an:

der Krake

des Krake-n

dem Krake-n

den Krake-n

Was fällt auf? Es ist schon überall ein n enthalten, nur im Nominativ nicht. Daher bietet es sich an, –n auch auf den Nominativ zu übertragen. Das erfolgt in zwei Schritten: Erst einmal wird der Genitiv nicht mehr nur auf –n, sondern auf –ns gebildet. Aus des Kraken wird des Krakens. Wenn das passiert ist, sieht es so aus, als würde –n zum Stamm des Worts dazu gehören. So wie –s an Ball gehängt wird, sieht es so aus, als würde –s an Kraken gehängt und nicht –ns an Krake.

der Krake

des Kraken-s

dem Kraken

den Kraken

Und von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Kraken: Da –n zum Stamm zu gehören scheint, wird es auch im Nominativ genutzt und damit wird der Krake zum Kraken. Mit diesem Schritt wechselt der Kraken die Flexionsklasse, da er sich jetzt wie ein starkes Maskulinum verhält. Alle Kasus sind endungslos außer dem Genitiv.

der Kraken

des Kraken-s

dem Kraken

den Kraken

Derselbe Mechanismus greift übrigens bei Wille/n, Drache/n, Friede/n und Glaube/n. Beim Drache/n gibt es noch eine Besonderheit, denn hier scheinen sich zwei Bedeutungen auszubilden: Der Drache ist das feuerspeiende Wesen, der Drachen das bunte Flatterding, das man steigen lassen kann.

Genuswechsel

Der Krake kann aber nicht nur zu dem Kraken werden, sondern auch zu einer Krake. Wie kommt das? Wenn wir uns Feminina einmal genauer ansehen, fällt auf, dass sie sehr gerne zweisilbig sind und auf Schwa enden: die Wolke, die Lampe, die Biene, die Fliege, die Sonne sind alles Feminina. Außerdem beziehen sich Feminina oft auf Unbelebtes, auf Reptilien oder auf wirbellose Tiere. Da passt der Krake/n ja ziemlich gut dazu! Und deswegen wechselt er das Genus hin zu die Krake. Das Ganze ist übrigens überhaupt nicht neu. Auch die Blume, die Heuschrecke, die Schlange und die Schnecke waren mal schwache Maskulina und haben sich den Feminina angeschlossen. Außerdem hier versammelt: paarige Körperteile wie Niere und Wade. Auch diese waren mal schwache Maskulina. Aber wenn man zwei von einer Sache hat, ist es natürlich etwas umständlich, wenn man Singular und Plural nicht auseinanderhalten kann. Deswegen hat es sich für die Niere angeboten, zu wechseln. Es macht eben einen Unterschied ob man Probleme mit der Niere oder mit den Nieren Probleme hat. Der Unterschied ist aber nicht so deutlich, wenn Niere ein Maskulinum ist: Dann hat man Probleme mit der Nieren im Singular bzw. den Nieren im Plural. Hier hilft nur der Definitartikel beim Unterscheiden.

Nochmal alles zusammen

Das ist also gar nicht so einfach mit der Krake! Wir haben drei Formen auf einmal: der Krake als alte Form sowie der Kraken und die Krake als zwei neue Formen. Dabei ist der Auslöser der Variation, dass der Krake nicht so gut zu den anderen schwachen Maskulina passt, weil die sich meist auf Menschen beziehen und der Krake eben kein Mensch ist. Der Krake hat gleich zwei Anschlussmöglichkeiten: Er kann einfach –n annehmen und ein starkes Maskulinum werden oder sich den Feminina anschließen.

Zum Weiterlesen:

Köpcke, Klaus-Michael (2000): Chaos und Ordnung – Zur semantischen Remotivierung einer Deklinationsklasse im Übergang vom Mhd. zum Nhd. In: Bittner, Andreas; Bittner, Dagmar und Klaus-Michael Köpcke: Angemessene Strukturen. Systemorganisation in Phonologie, Morphologie und Syntax. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms, 107-122.

Müller, Astrid und Eleonore Schmitt (2017): Ist er zum Helden oder zum Held geworden? die Deklination der schwachen Maskulina als Zweifelsfall. In: Praxis Deutsch 264, 47-54.