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Das Rezipientenpassiv: Warum wir ein neues Passiv bekommen

Die Kinder bekommen eine Geschichte vorgelesen. Ich bekomme gleich einen leckeren Kaffee gekocht. Der Nachbar bekommt ein Fahrrad geschenkt. Das sind alles erst einmal stinknormale Sätze im Deutschen, aber sie haben dann doch eine wichtige Besonderheit: Es sind allesamt Passivsätze und das, ohne klassische Passivsätze zu sein. Normalerweise würde man ja sagen: Den Kindern wird eine Geschichte vorgelesen, Mir wird gleich ein leckerer Kaffee gekocht, Dem Nachbarn wird ein Fahrrad geschenkt. Wozu haben wir dieses Passiv mit bekommen? Und ist es wirklich ein richtiges Passiv? Das bekommt ihr heute erklärt!

Wozu überhaupt Passiv?

Bevor wir uns anschauen, wozu das Passiv mit bekommen gut ist, müssen wir uns erst einmal fragen, wozu so ein Passiv generell gut ist. Wir unterscheiden grundsätzlich Aktiv und Passiv voneinander.

Aktiv: Der Vater trägt das Kind.

Passiv: Das Kind wird (vom Vater) getragen.

Das Subjekt ist in einem Satz im Aktiv typischerweise jemand, der etwas macht. Im Beispielsatz ist das der Vater. Man nennt diese Rolle des Handelnden in der Linguistik Agens. Das ist auch wortwörtlich jemand, der etwas tut. Normalerweise gehen im Deutschen Subjekt und Agens immer zusammen. Beim Tragen gibt es aber nicht nur die Person, die etwas tut, sondern auch die, die der Handlung ausgesetzt ist, in dem Fall das Kind. Diese Rolle nennt man in der Linguistik Patiens. Wortwörtlich meint das, dass die Handlung von jemanden erlitten wird, auch wenn das beim Tragen nicht unbedingt so viel mit Leiden zu tun haben muss. In einem Aktivsatz wird die Patiensrolle durch den Akkusativ ausgedrückt (das Kind).

Aber was passiert nun im Passiv? Im Passiv ist nicht mehr die Agensrolle der Handlung im Subjekt, sondern die Patiensrolle, also das Kind. Damit steht auch die Patiensrolle im Mittelpunkt. Noch viel wichtiger: Ich kann die Agensrolle ganz weglassen! Das Kind wird getragen. Von wem, ist erstmal völlig egal. Das ist das Spannende an Passivsätzen: Die Agensrolle, die sonst also immer Subjekt ist, wird hier woanders hin verbannt und kann sogar ganz weggelassen werden. Deshalb sind Passivsätze in der Politik so beliebt: Da wurden Fehler begangen – aber von wem, das muss ich zum Glück nicht sagen.

Wir halten fest: In Aktivsätzen ist die Agensrolle im Fokus, in Passivsätzen kann man dagegen andere Rollen in den Fokus setzen. Das ist beim werden-Passiv die Patiensrolle: Das Kind wird getragen. Hier steht das Kind im Mittelpunkt.

Und hier kommt das Rezipientenpassiv ins Spiel. Vergleichen wir mal diese beiden Passivsätze:

werden-Passiv: Mir wird ein Buch von meinem Vater geschenkt.

Rezipientenpassiv: Ich bekomme ein Buch von meinem Vater geschenkt.

Beim werden-Passiv ist das Buch Subjekt. Das Buch ist auch Patiens der Handlung, denn es unterliegt dem schenken. Die Agensrolle haben wir wieder ausgelagert und sie kann auch ganz weggelassen werden (von meinem Vater). Aber in dem Satz kommt ja auch noch vor, dass mir etwas geschenkt wird. Ohne diese Information ist der Satz sogar unvollständig, denn zum Schenken gehören immer drei Sachen: Jemand der schenkt, etwas, das geschenkt wird, und jemand, dem das etwas geschenkt wird. Diesen jemand, dem etwas geschenkt wird, nennt man Rezipient. Das ist wortwörtlich übersetzt jemand, der etwas erhält. Und genau diese Rolle wird vom Rezipientenpassiv betont, indem sie im Subjekt steht. Und jetzt wisst ihr alle auch, warum das Rezipientenpassiv Rezipientenpassiv heißt!

An dieser Stelle ein kleiner Hinweis: Das Rezipientenpassiv wird auch oft bekommen-Passiv genannt, analog zum werden-Passiv. Da man aber das Rezipientenpassiv auch mit kriegen bilden kann, ist das eher ungenau und daher verwenden wir den Ausdruck Rezipientenpassiv.

Jetzt wollen wir uns das Rezipientenpassiv aber einmal genauer ansehen: Was macht diese Sätze eigentlich zum Passiv?

Das Rezipientenpassiv auf dem Prüfstand

Drei Punkte sprechen dafür, dass das Rezipientenpassiv ein Passiv ist:

  1. Im Rezipientenpassiv sind nur passivfähige Verben möglich. Passivfähige Verben sind Verben, die auch im werden-Passiv genutzt werden können. Lachen ist zum Beispiel kein passivfähiges Verb. Es kann weder im werden-Passiv noch im Rezipientenpassiv genutzt werden: *Ich werde gelacht/*Ich bekomme gelacht.
  2. Im Rezipientenpassiv wird die Agensrolle genauso wie beim werden-Passiv durch eine von-Phrase ausgedrückt: Den Kindern wird vom Vater vorgelesen/Die Kinder bekommen vom Vater vorgelesen.
  3. Sätze im Rezipientenpassiv können auch im werden-Passiv ausgedrückt werden: Ich bekomme das Buch geschenkt/Mir wird das Buch geschenkt.

Diese Punkte weisen somit alle darauf hin, dass das Rezipientenpassiv genauso wie das werden-Passiv verwendet wird und damit eine Passivform ist.

Allerdings ist das Rezipientenpassiv noch sehr stark mit der Rezipientenrolle verknüpft. Das merkt man an folgendem Satz: Ich habe ein Buch geschenkt bekommen, aber ich habe es nicht erhalten. Dieser Satz klingt merkwürdig, denn das Rezipientenpassiv impliziert, dass ich das Buch auch wirklich erhalten habe, indem ich es geschenkt bekam. Derselbe Satz kann aber mit werden ohne Probleme gebildet werden: Mir wurde ein Buch geschenkt, aber ich habe es nicht erhalten.

Probleme gibt es auch mit Sätzen, in denen man eben nichts erhält, sondern einem etwas wegnommen wird, wie bspw. Er bekommt mein Fahrrad gestohlen. Das kann man gut mit der semantischen Rolle erklären: Da er im Beispielsatz nichts erhält, sondern mir etwas weggenommen wird, ist er auch kein Rezipient. Man würde hier von einem Malefizienten sprechen, jemanden, dem durch eine Handlung geschadet wird. Und der passt eben nicht so recht zum Rezipientenpassiv.

Man sieht die eingeschränkte Nutzbarkeit des Rezipientenpassivs auch daran, dass man keine Patiensrolle ins Rezipientenpassiv zwingen kann: *Das Kind bekommt getragen funktioniert nicht. Nun heißt das Rezipientenpassiv natürlich auch nicht umsonst nach genau der Rolle, die es betonen möchte, aber von einem komplett fertigen Passiv würde man erwarten, dass es universal einsetzbar ist. Und das ist das Rezipientenpassiv eben nicht.

Das Rezipientenpassiv im Überblick

Wir halten fest:

  • Neben dem werden-Passiv gibt es das Rezipientenpassiv.
  • Anders als das werden-Passiv rückt das Rezipientenpassiv die Rezipientenrolle in den Vordergrund.
  • Das Rezipientenpassiv erfüllt viele Kriterien für Passivsätze.
  • Dennoch ist es ein Passiv im Entstehen, weil man nicht alle Sätze, die man ins werden-Passiv setzen kann, auch in das Rezipientenpassiv setzen kann.

Und nun: Viel Spaß mit dem Rezipientenpassiv! Wir sind gespannt, wie das Passiv weiterentwickelt bekommt.

Hinweis für Sprachfüchse:

Ich habe in dieser Zwiebel auf das Vorgangspassiv fokussiert und das Zustandspassiv (Die Tür ist geschlossen) bewusst ausgespart, um die Darstellung nicht zu kompliziert werden zu lassen.

Zum Weiterlesen:

Szczepaniak, Renata (2011): Grammatikalisierung im Deutschen: Eine Einführung. 2. Aufl. (Narr Studienbücher). Tübingen: Narr.

2 Kommentare zu „Das Rezipientenpassiv: Warum wir ein neues Passiv bekommen

  1. Vielen Dank 🙂 Eine Frage habe ich jedoch: „[A]ber von einem komplett fertigen Passiv würde man erwarten, dass es universal einsetzbar ist“ – unter welchen Prämissen würde man das denn genau erwarten?

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    1. Vielen Dank für diese wichtige Frage! Das wäre aus Sicht der Grammatikalisierungstheorie zu erwarten, denn dann hätte sich das Rezipientenpassiv komplett von der Ursprungsstruktur gelöst. Aber da es ja schon ein Passiv gibt, würde ich das nicht erwarten. Daher kann man sich auf jeden Fall fragen, ob man hier überhaupt diesen Maßstab anlegen sollte oder nicht einfach nur die Funktion in den Blick nehmen sollte.

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