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geflüchtet oder geflohen? Was ist der Unterschied zwischen den Verben?

Heute beantworten wir mal wieder eine Leserfrage: Wann nutzen wir geflüchtet und wann geflohen? Die Verben bedeuten ja erst einmal dasselbe, nämlich ’sich vor etwas in Sicherheit bringen‘.  Der Fragensteller hatte den Eindruck, dass flüchten eventuell weniger aufwendig ist als fliehen: Vor Krieg flieht man, während man sich aus dem Regen unter einen Baum flüchtet. Wir schauen fliehen und flüchten heute näher an und überprüfen, ob an der Aufwand-These unseres Fragenstellers etwas dran ist.

Zunächst einmal zu den Basics: Fliehen und flüchten sind eng verwandt. Flüchten leitet sich sogar von fliehen ab: Aus dem Verb fliehen wurde das Substantiv Flucht und dann aus der Flucht das Verb flüchten. So schnell hat man zwei Verben für dasselbe Konzept, es handelt sich also um Synonyme.

Das Lustige an Synonymen ist, dass sie selten exakt dasselbe bedeuten. Das kann man zum Beispiel an Hund und Köter sehen. Die Wörter sind synonym, weil sie beide auf das Konzept ‚vierbeiniges Tier mit Fell, das bellt‘ verweisen. Aber Hundebesitzer_innen werden vermutlich nicht begeistert sein, wenn man ihre Hunde als Köter bezeichnet, selbst mit dem Hinweis darauf, dass Köter ein Synonym zu Hund ist. Köter ist eben nicht neutral, sondern abwertend. Umgekehrt gibt es auch Synonyme, die etwas aufwerten, wie bspw. Gaumenschmaus statt Essen. Manchmal sind sich Synonyme in ihrer Bedeutung auch sehr ähnlich, aber werden trotzdem unterschiedlich verwendet. Flur und Diele sind beispielsweise Synonyme, aber einen Flur in einem Bürogebäude würde man nicht Diele nennen.

Zurück zu fliehen und flüchten. Auf den ersten Blick kann ich zwischen den Verben keinen Bedeutungsunterschied feststellen, nach meinem Sprachgefühl sind beide neutral und weder ab- noch aufwertend. Auch der Duden sieht kaum einen Bedeutungsunterschied: fliehen wird als ’sich eilig entfernen, um sich vor einer Gefahr in Sicherheit zu bringen; (vor etwas, jemandem) davonlaufen‘ definiert und flüchten als ‚[plötzlich und sehr eilig] fliehen; sich einer drohenden Gefahr durch Flucht zu entziehen versuchen‘. Die Definitionen sind also fast identisch. Im Gegensatz zu fliehen kann flüchten laut Duden auch plötzlich und schnell geschehen.

Damit können wir aber noch nicht unsere Aufwand-These überprüfen, nach der flüchten eine weniger aufwendige Angelegenheit ist als fliehen. Man könnte höchstens sagen, dass plötzlich nun mal mit nicht mit besonders viel Planung verbunden ist. Somit wäre flüchten weniger aufwendig, weil es eben plötzlich und schnell beinhaltet. Trotzdem  kann das Flüchten an sich aber aufwendig sein. Um die Aufwand-These zu überprüfen,  schauen wir uns mal an, wie flüchten und fliehen verwendet werden. Dafür nutzen wir das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS), das uns erlaubt, Wortprofile zu erstellen. Das Wortprofil basiert auf einer großen Textmenge und zeigt an, mit welchen anderen Wörtern fliehen und flüchten häufig verwendet werden.

Schauen wir uns mal die Top-Ten der Wörter an, die oft mit fliehen oder flüchten verwendet werden:

fliehen flüchten
Nazi Täter
Westen Beute
zurück Räuber
Täter unerkannt
Exil anschließend
Beute Richtung
Panik Fuß
Tausend Komplize
Zehntausend Panik
Hunderttausend Gangster

Zunächst fällt auf, dass ein paar Wörter sowohl häufig mit fliehen als auch mit flüchten verwendet werden: Täter fliehen und flüchten mit Beute und man flieht oder flüchtet in Panik. Nazi, Exil und Westen tauchen hingegen nur bei fliehen als häufige Wörter auf, ebenso wie die Zahlenangaben Hunderttausend, Zehntausend und TausendFliehen scheint also einen äußeren Grund (vor Nazis) zu beinhalten und einen Zielort (Exil, Westen), zudem fliehen nicht einzelne, sondern viele (hundert-, zehn-, tausend). Dagegen flüchten Komplizen, Räuber oder Gangster und das zu Fuß und unerkannt, in eine bestimmte Richtung. Unsere These bestätigt sich also: Flüchten scheint mit weniger Aufwand verbunden zu sein. Zumindest ist davon auszugehen, dass die Flucht von Komplizen und Gangstern i. d. R. keinen Länderwechsel beinhaltet. Es geht beim Flüchten also eher darum, sich schnell von einem bestimmten Ort zu entfernen, der Grund für die Flucht ist dabei im Verwendungskontext oft eine Straftat. Die Wörter Beute und Täter, die sowohl mit fliehen als auch mit flüchten häufig vorkommen, zeigen aber, dass diese Bedeutung für fliehen nicht ausgeschlossen ist.

Nun wollen wir uns das Ganze aber noch genauer ansehen. Bislang haben wir die Verben nur getrennt betrachtet. Wir können sie aber im DWDS-Wortprofil auch direkt miteinander vergleichen: Welche Wörter werden besonders häufig mit fliehen, aber nicht mit flüchten verwendet, und umgekehrt?

Wir schauen uns zwanzig Wörter an, die entweder gerne mit fliehen oder mit flüchten stehen:

Steht häufiger mit fliehen:

  • UN-Angabe
  • Pest
  • Waldbrand

Steht häufiger mit flüchten:

  • Hauseingang
  • Verursacher
  • Täterin
  • Allgemeinplatz
  • Floskel
  • Rettungsschirm
  • Fittich
  • Unfallverursacher
  • Zynismus
  • Ausrede
  • Ironie
  • Galgenhumor
  • Sarkasmus

Interessanterweise sind nur drei Wörter eher mit fliehen assoziiert als mit flüchten. Die UN-Angabe mag zunächst erstaunen – dahinter verbergen sich Sätze wie Nach UN-Angaben sind bereits zwei Millionen Menschen ins Ausland geflohen. Dies passt zu unseren Beobachtungen von oben: Fliehen betrifft viele Menschen, die von einem zu einem anderen Land gehen. Die UN-Angabe verdeutlicht, dass fliehen in einem politischen Kontext genutzt wird. Mit Pest und Waldbrand tauchen zwei neue Ursachen aus, vor denen geflohen wird. Fliehen scheint somit mit komplexen Gründen verbunden zu sein, die nicht unbedingt menschengemacht sind. Wenn man im Wortprofil statt 20 Kollokationen (also Wörtern, die gerne mit fliehen bzw. flüchten auftreten) 50 zulässt, tauchen bei fliehen noch mehr Fluchtgründe auf: Machtergreifung, Nazi-Deutschland, Rache, Luftangriff.

Beim Flüchten sehen wir zunächst mit Verursacher, Täterin und Unfallverursacher wieder Wörter, die gut zu unserer Bedeutung ’sich schnell von einem Ort entfernen wegen einer Straftat‘ passen. Spannend ist das Wort Täterin: Während ein Täter sowohl flieht als auch flüchtet, scheint eine Täterin eher zu flüchten – zumindest in den zugrundeliegenden Texten. Hauseingang gibt einen Hinweis darauf, wohin geflüchtet wird. Gemeint ist hier aber nicht der Täter, sondern eher das Opfer einer Straftat, das sich in einen Hauseingang flüchtet.

Interessant wird es bei den anderen Kollokationen von flüchten. Diese sind nämlich metaphorisch, es wird also nur im übertragenem Sinn geflüchtet: So sollen Länder unter den Rettungsschirm flüchten und es wird kritisiert, wenn sich jemand in Allgemeinplätze, Floskeln, Sarkasmus oder Ironie flüchtet. In der metaphorischen Verwendung steht flüchten in der Regel mit mit sich. Die metaphorische Verwendung sehen wir bei fliehen nicht. Wir können also die Bedeutung von flüchten erweitern: Auch im übertragenem Sinn kann man sich durch Flüchten in Sicherheit bringen.

Nun überrascht es vielleicht, dass einige der Wörter, die wir am Anfang beobachtet haben, wie bspw. Nazi, Westen, Exil für fliehen und Beute, Räuber, Komplize für flüchten hier gar nicht mehr auftauchen. Wenn wir uns im Wortprofil einmal die Gemeinsamkeiten von flüchten und fliehen anzeigen lassen, sehen wir folgende Wörter: Täter, Beute, Panik, Weste, Räuber, unerkannt, Nazi, Richtung, Exil, Tausend. Hier sind also die Wörter wieder, die wir in der Unterschied-Analyse nicht gesehen haben.

Das lässt sich leicht erklären: Auch wenn Beute häufig mit flüchten vorkommt, heißt das ja nicht, dass fliehen nicht mit Beute vorkommen kann. Daher ist es wichtig, sich die Wörter nicht nur einzeln, sondern auch im Vergleich anzusehen, wie wir das gerade gemacht haben. Aber auch der individuelle Blick auf die Verben ist spannend, weil er uns einen allgemeinen Eindruck von ihrer Verwendung gibt.

Wir halten also fest: Fliehen und flüchten sind Synonyme, die mit unterschiedlichen Kontexten verbunden sind. Fliehen wird oft verwendet, wenn es einen lebensbedrohlichen Grund für die Flucht gibt und das Verlassen eines Landes thematisiert wird, das viele Menschen betrifft, während flüchten oft im Kontext von Straftaten vorkommt. Das bestätigt die Aufwand-These. Wenn man sich die Wörter im Vergleich anschaut, scheint fliehen im Unterschied zu flüchten mit schwerwiegenden Fluchtursachen und (daher) auch mit Politik verbunden zu sein. Alleinstellungsmerkmal von flüchten scheint zu sein, dass man es metaphorisch verwenden kann.

Wenn ihr noch mehr zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden von flüchten und fliehen erfahren wollt, stöbert einfach selbst noch ein wenig im DWDS-Wortprofil.

9 Kommentare zu „geflüchtet oder geflohen? Was ist der Unterschied zwischen den Verben?

  1. Interessant, aber dieser Logik folgend müßten Leute, die aus politischen Gründen ihr Land verlassen, eigentlich Fliehlinge statt Flüchtlinge genannt werden. Auch diese umschreibende Partizipkonstruktion „Geflüchtete“ wäre demnach unpassend, oder???

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    1. Hallo, danke für deine Frage! Es geht im Artikel nur um die Konnotation der Verben. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass man auch bei Menschen, die aus politischen Gründen in ein anderes Land gehen, sagt, dass sie geflüchtet sind. Zudem ist Flüchtling zwar von flüchten abgeleitet, es hat aber trotzdem nicht dieselbe Konnotation wie flüchten. Das zeigt das DWDS-Wortprofil von Flüchtling: https://www.dwds.de/wp/?q=Fl%C3%BCchtling Flüchtling wird wenig überraschend vorrangig mit Herkunftsadjektiven verwendet. Es wird also in einem ähnlichen Kontext wie fliehen und eher nicht in metaphorischen wie flüchten verwendet.

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  2. Interessant, aber dieser Logik folgend müßten Leute, die aus politischen Gründen ihr Land verlassen, eigentlich Fliehlinge statt Flüchtlinge genannt werden. Auch dieses umschreibende „Geflüchtete“ wäre demnach unpassend.

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  3. Schade um den schönen Artikel. Eine Seite, die sich so intensiv mit der deutschen Sprache beschäftigt und gendert? Sachen gibt’s, die gibt’s nicht.

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  4. Ich hatte schon immer eine Ahnung, dass es eher „Geflohene“ heißen sollte als „Flüchtlinge“ oder eben „Geflüchtete“…

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